cf: Olymp
Die Rebellen hatten Sawyer gütiger weise relativ nah der Stadtgrenze von Colorado Springs abgesetzt. Und im Schatten. Das war schon mal viel wert. Von hier aus kannte er sich natürlich aus, auch wenn seine Sinne noch recht träge waren, als er aufwachte. Er hatte gegen seine aufständischen Gefangennehmer nicht mehr aufbegehrt und eine Sekunde hatte er wirklich damit gerechnet, sie würden ihm eine Giftspritze verpassen. In dem Moment in dem er weggetreten war, hatte es ihn auch für eine Sekunde nicht mehr gejuckt. Jetzt war er froh frische Luft zu atmen, auch wenn die Sonne die Luft auf eine unerträgliche Temperatur erhitzte. Seine kibernetischen Lungenflügel kamen mit einigem zurecht, zum Teil auch mit schädlichen Gasen. Das hier war also ein Traum nach der stickigen, klammen Zelle in der er fast eine Woche zugebracht hatte.
Sein Vorankommen konnte man als gemächlich bezeichnen, das lag nicht an seiner Kondition, sondern daran, dass er dringend seine Wirbelsäule abchecken lassen musste. Er hatte das Gefühl ähnliche grazil zu gehen wie der Glöckner von Notre Dame. In Colorado Springs wollte man ihn erst nicht einlassen. Spätestens als er das Symbol von Panthera auf seiner Oberarminnenseite entblößte, das Brandzeichen seiner Schande konnte man mittlerweile festhalten, kam man ihm wie gewohnt mit großem Respekt entgegen. Er war immerhin einer der privilegiertesten der Alphas, oder nicht? Vor allen Dingen jetzt, wo sein Gehirn so gewaschen war, dass er kurz davor war sich die Kugel zu geben. Sobald er die strengen Passkontrollen überwunden hatte, suchte er sich das nächste öffentliche Interface, um nach New Vegas Kontakt aufzunehmen. Da man ihm in der Rebellenhauptstadt sämtlicher neuzeitlicher Vorteile wie seinem Smartphone oder seinem Portemonnaie entwendet hatte, war er wirklich froh seine Kreditkarte über einige Klicks und Pinnummern von hier aus anzapfen konnte. Ein weiterer neuzeitlicher Vorteil, auf den jeder eingetragene Staatsdiener zurückgreifen konnte, der in der regionalen Militärdatenbank erfasst war. Das Gespräch war kurz und bündig. Er erfuhr, dass man bereits nach ihm gesucht hatte. Er wusste nicht, ob er das als positives Zeichen auffassen sollte. Sie würden ihm unmittelbar eine Transportdrohne zur Verfügung stellen, mit der er den längeren Weg nach New Vegas antreten konnte. Je näher Sawyer seiner Heimat kam, desto befangener fühlte er sich. Glücklicherweise teilte man ihm noch während der Fahrt über das Kommunikationspanel des Gefährts mit, dass er vorerst vom Dienst freigestellt war, so dass er direkt sein zu Hause anpeilen konnte.
Die imposanten Wohntürme stimmten ihn etwas positiver.
In seinem Apartment verriegelte er seine Wohnungstür dreifach und ließ sich ohne Umwege auf seine große, weiche Couch fallen. Dort blieb er dann so lange liegen, bis seine Blase fast platzte.
„Komm mal klar jetzt, Alter...“, spornte Nathan sich selber an und erhob sich, taumelte ins Bad und richtete sich her. Nur rasieren tat er sich nicht. Solang er nicht aussah wie ein Rabbi, war ihm das jetzt egal. Hunger hatte er keinen, wie Starfire es vorhergesagt hatte widerte ihn alles in seinem Kühlschrank an, selbst das gute alte Bier. Wegen seinem Wehwehchen rief er den Stabsarzt seiner Einheit an. Am Abend würde er ihm einen Besuch abstatten. Ach stimmt, es war ja erst zehn Uhr in der Früh. Da an Schlaf nicht zu denken war, versuchte der West so verzweifelt wie nur möglich Normalität in den Tag einzuführen und setzte sich an seinen Laptop, bestellte sich ein neues Smartphone und ließ sich seine Geldkarten mit neuem Pin zuschicken. Mit einem Mal landete der Computer dann unwirsch auf den Fliesen seiner Wohnung. In einem Anflug aus Wut oder Panik, er wusste es nicht, hatte er diesen von sich geschleudert. Er sollte wohl besser noch den Psychodoc alarmieren, er hatte das Gefühl abzudrehen. Völlig entkräftet verbarg er das Gesicht in seinen Händen und schlug sich dann mit der flachen Hand ein Mal selbst auf die Wange.
„Du lebst noch, hast alle Körperteile und du hast noch keine Ahnung, ob sie dich entlarvt haben. Verräter. Nichts anderes als ein schamloser Verräter bist du, Nate.“, ging ihm durch den Kopf und er kam sich vor wie Gollum mit seiner Persönlichkeitsstörung. Er musste sich zusammenreißen. Spätestens wenn die ärztliche Hilfe seinen Rücken beguckte, durfte er nicht mehr das Opfer des Jahrtausends mimen. Sie würden ihn wegsperren oder vielleicht gleich als Judas deklarieren und steinigen. Das mit dem Alkohol verwarf er geflissentlich. Stattdessen ließ er sich vom Mittagsprogramm der Glotze berieseln. Am liebsten würde Sawyer sich verkriechen oder im Erdboden versinken. Je mehr er sinnierte, desto weniger stieg er hinter das, was sich ihm erschließen sollte. Die Rebellen hatten ihn quasi läutern wollen, aber der loyale Soldat haderte mit seiner Konformität. Er hatte vor der Ares alles eingestanden, er fühlte sich schuldig für eigentlich sämtliche Dinge, die die Obrigkeit durch ihn und andere verbrochen hatte. Durch so unsagbar dämliche Hornochsen wie ihn und durch die vollends gesteuerte Gesellschaft. War es schlicht und ergreifend großzügig gewesen ihn ziehen zu lassen, oder hatten die Rebellen Potential in ihm entdeckt? Er hatte sich schon des öfteren durch offensive Kritik eine Rüge eingeheimst. Aber jetzt erst entwickelte er ein Verständnis dafür, wie ungeahnt groß die Probleme faktisch waren. Schwermütig betrachtete Sawyer die Bewegungen auf seinem gigantischem Plasmafernsehen. Er starrte in die emotionslosen, gelifteten Gesichter der Menschen, auf ihr gebleichtes, oftmals weißes Haar, das war alles so falsch. In der Werbepause verfiel er in einen hysterischen Lachanfall, als in einem Spot nach dem anderen mit frischen, gesunden Lebensmitteln geworben wurde, von strahlenden Fratzen präsentiert. Irgendein Modehaus stellte die neuste Kollektion zur Schau, ausgemergelte, blasse Models vermittelten durch ihr Herumgehampel 'Esprit und Lebensfreude'. Die Kinder die das genäht haben, waren bestimmt genau so beglückt.
„Jetzt denkst du Wort für Wort wie Die.“
Innerhalb eines Augenblicks war der TV aus. Er musste dringend eine Rauchen, oder zwei, drei. Das schlechte Gewissen angesichts der Kippen und woher diese stammten erstickte er im Qualm.
Nach vier Zigaretten hatte er sich beruhigt und schlief irgendwann dann doch von Alpträumen geplagt auf dem Sofa ein.
Gegen acht klingelte ihn der angemeldete Besuch wach. Wie sich herausstellte, hatte er sich nicht nur alles geprellt, sondern eine Metallplatte seiner Thoraxprothese hatte sich gelöst und zwischen zwei Wirbeln verkeilt. Er war glimpflich davon gekommen. Mittels eines magnetischen Gerätes und etwas roher Gewalt positionierte der Doktor das Teilchen neu und verschrieb seinem Patienten ein Opiat als Schmerzmittel. Oh, wie es nicht nur den Schmerz stillen würde...
Kaum war der Doc durch die Tür, klingelte sein Haustelefon. Eine Stimme am Hörer teilte ihm mit, dass er am nächsten Tag um 14 Uhr einen wichtigen Termin wahrzunehmen hatte. Nate stand kurz vor einem Herzinfarkt. Er hatte eine Audienz mit Dinner beim Präsidenten. Gut, er konnte also gleich seine Koffer packen. Fieberhaft ging er durch, welche Möglichkeiten zum Selbstmord er zur Verfügung hatte. Dann kriegte er sich doch wieder ein. Man sollte den Teufel ja nicht an die Wand malen. Eventuell wollte das Staatsoberhaupt ja nur mit ihm zu Mittag essen, ganz sicher. Sawyer war kurz davor in Tränen auszubrechen und seine Kehle schnürte sich zusammen. Zuletzt hatte er sich so als Kind gefühlt. Wo war nochmal der Alkohol?
Am nächsten Morgen erwachte er ohne Kater, eine Meisterleistung. Er hatte sich mit einer ganze Flasche feinsten Rums angefreundet. Nur sein Kopf schmerzte, aber das tat er ja seit Tagen. Er schob es auf das Prozedere des Arztes am vorigen Abend. Es war bereits spät, die Zähne putzte er sich sicherheitshalber trotzdem mehrmals und er vertilgte etwas Nahrung. Bei Russel würde er sowieso etwas runterschlingen müssen, wenn er gleich seinen Fuß vor die Tür setzte, musste er wieder der Alte sein. Im Spiegel linste ihm eine perfekte Maskerade entgegen. Also hatte ihm seine Ausbildung der Armee doch etwas gebracht. Auf der Reise mit dem Schnellexpress zum Weißen Kastell war seine Nervosität dann größer als seine Sorgen über Gerechtigkeit und Wahnsinn. Er würde jetzt unter Beweis stellen, wie gut er Lügen konnte. Gemeinhin konnte er das hervorragend, wenn er es nötig war. In seiner Akte stand immerhin ein Vermerk zu seinem Manipulationstalent. Wenn ihm das jetzt nicht zum Verhängnis werden würde... Bei den Rebellen hatte er erstmalig erfahren wie es ist, wenn einem seine Fähigkeiten im Stich ließen.
tbc: Das Weiße Kastell